Neoprengeflüster

Premiummodell versus Basilinie: Sind Preise für Neoprenanzüge von 500 Euro und mehr gerechtfertigt oder können auch die deutlich günstigeren Vertreter im Leistungsvergleich mithalten? Neoprenexperte Kai Geffken macht die Probe aufs Exempel.

„519 Euro für einen Neoprenanzug? Soll das ein Witz sein? Ich will einen Neo zum Kiten und nicht, um damit zum Mond zu fliegen!“ Leicht verwundert holt der Verkäufer tief Luft und fängt an: „Ja, also das ist so: Dieser Anzug ist wirklich das Beste, was man auf dem Markt bekommen kann. Er hat alle Features, die man sich nur wünscht.“ Ein Dialog, den ich tagtäglich fast eins zu eins so mitverfolge. Der Kunde wünscht sich einen Anzug, mit dem er von März bis Oktober auf deutschen Gewässern kiten kann. Trotzdem sollte er im besten Fall nicht mehr als 200 Euro kosten. So geht es meist los, das Neoprenverkaufsgespräch, in dem vermittelt werden soll, warum die Premiumanzüge heute weit mehr kosten als 200 Euro. Was aber steckt wirklich in einem Anzug mit einem Preis um 500 Euro und was kann man von einem Neoprenanzug erwarten, der nicht mal die Hälfte des High-End-Produkts kostet?

Durchaus noch recht viel, ist meine klare Antwort. Schlechte Neoprenanzüge in der Preisklasse um 200 Euro gibt es schon lange nicht mehr. Der direkte Vergleich deckt die Unterschiede auf: zwei Anzüge, eine Marke, zwei Preisklassen. Aber lassen sich solch unterschiedliche Anzüge überhaupt direkt vergleichen? Hinkt dieser Vergleich nicht ebenso wie der von Apfel und Birne? Ich meine nein, denn der Kunde steht vor der Wahl und möchte wissen, ob sich eine solche Investition wirklich lohnt – nachhaltig und langfristig. Hält der teure Anzug wärmer, hält er länger, ist er wirklich komfortabler? Diese Fragen stellt sich wohl jeder, der eine neue wärmende Haut für die anbrechende Saison sucht.

Bessere Haltbarkeit und eine langfristige Versiegelung potenzieller Wasserbrücken: verklebte Nähte beim Strike Select.

Als Beispiel für diesen Vergleich dienen der Ion Strike Select 5,5/4,5 und der Ion Element 5,5. Die beiden Modelle liegen preislich satte 285 Euro auseinander, demnach sollte ein gigantischer Unterschied vorliegen, so die Annahme. Beim bloßen Betrachten sticht sofort ins Auge, dass einer der Anzüge sichtbare Nähte besitzt, während das andere Modell dünne Neoprenklebestreifen erkennen lässt. Auch die Glatthaut-Panels im Brust- und Rückenbereich sehen unterschiedlich aus. Während das Glatthautstück beim Element nur partiell den Brust- und Rückenbereich bedeckt, überzieht es beim Strike Select fast den gesamten Oberkörper und besitzt eine glänzendere Oberfläche. Vollzieht man den Grifftest, wird deutlich, dass zumindest beim Material offensichtlich Welten zwischen den beiden Anzügen liegen.

Großflächige Glatthaut-Panels im Oberkörperbereich reduzieren die Auskühlung durch Windchill.

Der Element fühlt sich im Arm- und Beinbereich rauer und dünner an als der Strike Select. Das Glatthau-Panel ist weicher. Würde man nach dieser banalen haptischen Überprüfung eine Wahl treffen müssen – fiele die Entscheidung sicherlich zugunsten des Strike Select aus. Aber basiert der Preisunterschied wirklich nur auf den voneinander abweichenden Materialien? Sicherlich nicht. Betrachtet man die Anzüge von der Innenseite, zeigen sich zwei komplett verschiedene Ausführungen. Während der Element im schlicht schwarzen, doppelkaschierten Neopren daherkommt, macht der Strike Select mit seinem rosa Innenfutter einfach einen deutlich hochwertigeren Eindruck. Ion nennt dieses plüschige Innenmaterial Plasma Plush. Es trocknet extrem schnell und leitet Feuchtigkeit durch die eingearbeitete Wabenstruktur schnell ab. Somit bleibt der Körper trockener, was wiederum die Wärmeisolierung steigert. Sämtliche Nahtübergänge sind zudem verklebt, wodurch die Lebensdauer erheblich verlängert wird.

Die Innenkaschierung macht nicht selten den spürbaren Unterschied aus. Bei den Premiumanzügen von Xcel garantiert Thermo Dry Celliant (TDC) maximale Wärme und Leistungsfähigkeit. Hierbei recyceln Mineralien in den Fasern der Kaschierung die Körperwärme und leiten sie als infrarote Strahlung zurück in den Körper.

Beim Anziehen gibt es für beide Anzüge keine Beanstandungen. Ein Unterschied ist trotzdem spürbar. Der leichte Widerstand im Beinabschluss deutet beim Strike Select darauf hin, dass Ion hier noch ein weiteres Feature eingebaut hat. Der Neoprenring am Beinabschluss ist für den Widerstand verantwortlich und verhindert einerseits das Hochrutschen des Anzugs, sorgt zugleich aber auch für eine weitere Barriere gegen Spritzwasser von unten. Sobald man den Reißverschluss des Premiumanzugs geschlossen hat, wird es unweigerlich warm. Das dicke, flauschige Material fühlt sich angenehm auf der Haut an, trotzdem ist ein sehr guter Bewegungskomfort gegeben.

Das flauschige Innenfutter Plasma Plush verwendet Ion nur bei den Premiumanzügen. Es sorgt für einen angenehmeren Tragekomfort, ist in erster Linie aber maßgeblich für die gute Wärmeisolierung des Strike Select verantwortlich.

Bleibt am Ende die Entscheidung, ob der Anzug für 190 Euro (Element) jegliche Ansprüche erfüllt oder ob die zusätzlichen Ausstattungsdetails des Strike Select, wie das Optimum an Wärmeisolierung und Flexibilität, ihre 475 Euro wert sind. Der Element 5,5 ist quasi die Cash Cow von Ion und wird sehr häufig gekauft. Ein optimaler Begleiter von Frühling bis Herbst und zugleich eine gute Wahl für alle, die nur gelegentlich aufs Wasser gehen und ein schmales Budget zur Verfügung haben. Wer sich als ambitionierten Wassersportler bezeichnet, bereits in den kalten Frühlingstagen oder auch mal im Winter aufs Wasser will und bei der Ausrüstung keine Kompromisse machen möchte, ist mit dem Strike Select hingegen besser beraten. Die Wärmeleistung als auch der Tragekomfort fallen höher aus. Gleichzeitig sorgen verklebte Nähte für eine langfristige Versiegelung der potenziellen Wasserbrücken und eine längere Lebensdauer. Und was sind angesichts von Bar-Preisen im 500-Euro-Bereich schon 285 Euro, wenn dafür am Ende pro Jahr ein Dutzend Sessions ohne Gänsehaut mehr auf der Haben-Seite stehen?

 

Text: Kai Geffken