Fernab ausgetretener Pfad
Reo Stevens bringt Kitesurfen an abgelegene Sehnsuchtsorte wie den Tuamotu-Archipel. Voraussetzung: Bereitschaft zur Extrameile und ein ausgeprägter Expeditionsgeist.
„Wenn es einfach wäre, würde es jeder machen.“ Mit dieser Einstellung habe ich schon während meiner Zeit als professioneller Kitesurfer meine Reiseziele ausgesucht. Bin umständlichere Wege gegangen als andere, habe einen zusätzlichen Flug oder einen Transfer mit dem Schiff in Kauf genommen, um besondere, unbekannte oder zumindest wenig frequentierte
Spots zu erreichen. Dabei womöglich etwas zu entdecken, das noch kein Kitesurfer zuvor gefunden hat, war stets meine Motivation. So viele Menschen folgen der Norm, reisen für ihre Kitetrips zu den Orten, die bereits in vollem Umfang erschlossen sind. Klar, das hat viele Vorteile und ich möchte es auch gar nicht schlechtreden, aber für mich war das nie der richtige Weg. Erst diese Einstellung hat mir gezeigt, wie viele wunderbare und unberührte Flecken es noch auf diesem Planeten gibt. Einer davon ist der Tuamotu-Archipel. Eine Gruppe von fast 80 Inseln und Atollen, die sich etwa 300 Meilen nordöstlich von Tahiti befindet und
zu Französisch-Polynesien gehört. Absolute Perlen sind die Atolle Fakarava und Rangiroa, die außer endlosen Ansammlungen von Kokospalmen auf den ersten Blick nicht viel zu bieten haben. Kaum überraschend, dass die wenigen Menschen hier von einer überschaubaren Landwirtschaft leben, die auf dem Anbau von Kopra (getrocknete Kokosnusskerne, aus denen Öl hergestellt wird) und Vanilleschoten basiert. Auf Rangiroa werden sogar Trauben angebaut, aus denen ein Roséwein hergestellt wird. Aber der eigentliche Schatz der Atolle sind die schneeweißen Strände und die leuchtenden Lagunen, die für Taucher, aber eben auch für Kitesurfer ein echtes Paradies darstellen.
Durch die aufwendige Anreise hält sich der Tourismus in Grenzen. Dementsprechend mangelt es der Region auch an Unterkünften. Weit entfernt von den Luxusresorts auf Tahiti und Bora Bora beschränken sich die Unterkunftsmöglichkeiten auf wenige Pensionen (Bed and Breakfasts), die sich überwiegend an den Riffpässen befinden und in erster Linie Tauchtouristen beherbergen. Als ich mich mit Reo Stevens Coaching selbstständig gemacht hatte, kam mir die Idee, meine umfangreich gesammelte Erfahrung im Erreichen solch ungewöhnlicher Ziele dafür einzusetzen, anderen Kitesurfern die unberührten Spotperlen ebenfalls zugänglich zu machen. Und so sitze ich mal wieder an Bord eines Katamarans, um gemeinsam mit der Crew unsere schwimmende Unterkunft 300 Seemeilen nach Rangiroa zu segeln. Meine Gäste haben es unterdessen deutlich leichter. Sie besteigen in Tahiti einen Flieger und brauchen genau 45 Minuten, um den Flughafen auf Rangiroa zu erreichen.
Wir befinden uns in der zweiten Nacht unserer dreieinhalbtägigen Überfahrt und bewegen uns mit gesetzten Segeln mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 7,2 Knoten auf unser Ziel zu. Meine Uhr zeigt mir Viertel nach eins an und es kommt mir vor, als würde ich bereits seit Stunden auf meinem Posten verharren. Allein mit dem Rauschen der Wellen, dem Wind und der Dunkelheit. Mein Auftrag: das Boot auf Kurs halten. Gegebenenfalls anderen Schiffen und Riffen ausweichen und dafür die Navigationsinstrumente dem Briefing des Kapitäns folgend im Blick behalten. Eigentlich ziehe ich es vor, nachts zu schlafen, um für die Tagaktivitäten fit zu sein, aber das Los hatte entschieden. Mir wurde die Wache von zwölf bis drei zuteil.
m Grunde eine ziemlich ereignislose Aufgabe, die dich mit deinen Gedanken allein im Dunkeln fesselt. Gleichzeitig stelle ich immer wieder fest, dass es an Bord eines Schiffs mitten auf dem Ozean eigentlich immer dann am meisten zu sehen gibt, wenn die Lichter ausgehen und die Dunkelheit einsetzt. Die Dichte der Sterne ist eine andere als in der Stadt. Sie leuchten heller und wirken lebendiger. Während mein Blick dann zwischen Himmel, Bug und Heck umherschweift, das Geräusch des schnittigen Rumpfs in den Ohren, wie er sich seinen Weg bahnt, kann man schon fast von einem tranceähnlichen Zustand sprechen, aus
dem ich erst von einer Hand auf meiner Schulter herausgerissen werde. Wachablösung. Drei Stunden sind rum. Zeit, schlafen zu gehen. Nach weiteren anderthalb Tagen Bordroutine erreichen wir das Tuamotu-Atoll, wo wir unsere Gäste in Empfang nehmen. Zehn Tage Kitesurfen, SUPen, Speerfischen, Tauchen und tiefgreifende Entspannung in einer kleinen Gruppe von Gleichgesinnten liegen vor ihnen. Die einzige große Hürde, der sich alle zunächst noch stellen müssen, bevor das bedingungslose
Eintauchen in diese faszinierende Inselwelt möglich ist, besteht in der Abkehr von einigen vertrauten Ritualen. Ganz besonders von der zu Hause selbstverständlichen Dauervernetzung. Die Mobilfunkverbindung hier draußen ist so brüchig, dass jeder, der es nicht schafft, sich gedanklich von seinem Smartphone zu lösen, von Frustration geplagt wird. Loslassen, sich treiben lassen, das sind die wichtigsten Aspekte, denen man bereit sein muss, sich zu stellen, um wirkliche Entschleunigung zu erleben und die Magie dieser Region vollends auf sich wirken lassen zu können. Panik muss deshalb nicht aufkommen, denn es gibt ein Satellitentelefon mit SMS-Funktion an Bord, das zur Aktualisierung der Wetterdaten genutzt wird und natürlich in Notfällen auch für Kontaktaufnahmen nach Hause verwendet werden kann. Doch das ständige Bedürfnis, online zu sein, kann an Bord nicht gestillt werden. Die Herausforderung besteht darin, den alle paar Minuten fast automatisch stattfindenden Griff in die Hosentasche abzustellen. Die meisten brauchen einige Tage, bis das Handy nicht mal mehr in der Tasche landet. Erst dann wird ihnen klar, welche Wirkung dieser Ort haben kann, wenn keinerlei Ablenkung mehr existiert und man sich vollkommen auf die Umgebung einlässt.
Ein großer Pluspunkt der Atolle: Sie erheben sich nur wenige Meter über den Meeresspiegel. Für Kitesurfer ein wahrer Traum, denn man muss lediglich einen Abschnitt finden, an dem die Palmen einen Korridor für den freien Lauf des Winds freigeben, um auf die perfekte Flachwasserpiste zu stoßen. Die meisten dieser Spots bieten keinen Strand für den Aufbau des Kites, aber wen kümmert das, wenn er an Bord eines Katamarans zu Hause ist und die Startplattform sozusagen direkt an die Bettkante grenzt? Hinsichtlich der Windausbeute kann Tuamotu nicht mit der genialen Statistik mithalten, die beispielsweise Kapstadt im europäischen Winter auffährt. Nicht jeder Tag hält 20 Knoten bereit. Der perfekte Zehn-Tage-Trip im Tuamotu-Archipel umfasst etwa fünf bis sechs Tage Wind. Aber es gibt eben auch noch eine ganze Menge mehr zu erleben als Kitesurfen. Einer meiner persönlichen Höhepunkte dieses Trips ist der Morgen des sechsten Tages. Während wir noch gemütlich unser Frühstück genießen, stürzt der Kapitän plötzlich aufgeregt herein. Mit dem Fernglas hat er im nahe gelegenen Riffpass Flossen entdeckt. Zunächst gehen wir alle von Haien aus. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch klar, es handelt sich um Mantas. Mit diesen gemütlichen Riesen der Meere zu schwimmen, ist ein Traum, den ich schon lange gehegt habe. Die beschauliche Ruhe des gemeinsamen Frühstücks wird von hektischem Treiben abgelöst. Jeder packt, so schnell es nur geht, seine Schnorchelausrüstung zusammen und springt in das bereits zu Wasser gelassene Beiboot. Langsam nähern wir uns dem Riffpass, um die Tiere nicht aufzuscheuchen. Etwa 15 der riesigen Segler mit einer Spannweite von über zwei Metern fliegen plötzlich um unser Boot herum. Wir navigieren bis zum Ausgang des Riffpasses und springen ins Wasser, um uns mit der Strömung auf sie zutreiben zu lassen.
Absolute Stille. Ich starre geradeaus ins tiefe Blau in freudiger Erwartung auf das, was da auf uns zukommt. Die ersten Schwingen tauchen auf, zeichnen sich noch schemenhaft hinter dem Glas meiner Taucherbrille ab. Dann geht alles ganz schnell. Die Strömung treibt uns direkt durch die Gruppe der Mantas hindurch und ich komme mir fast vor wie in einer Szene aus Star
Wars. Wie TIE-Jäger fliegen die majestätischen Tiere in Armlängendistanz unbeeindruckt von unserer Anwesenheit an uns vorbei. Die Zeit steht für einen kurzen Augenblick still. Blicke treffen sich und jedem ist die Faszination über diesen unglaublichen Moment anzusehen. Nur wenige Sekunden später ist er dann auch vorbei. Die Strömung, aus der die Mantas das Plankton herausfiltern, zieht uns entgegen ihrer Schwimmrichtung. Auftauchen, jubeln und kurz realisieren, was da gerade passiert ist. Als der Kapitän fragt, ob wir noch mal wollen, gibt es nur eine Meinung. Auf jeden Fall! Wir klettern an Bord des Dingis und wiederholen die Tour noch dreimal, bis die Mantas eine neue Futterstätte anpeilen und – so schnell wie sie aufgetaucht waren – auch hinter dem Riff im Blau des Ozeans verschwinden. Mit einem Dauergrinsen klettern wir vereint an Bord des Katamarans. Den Rest des Tages gibt es kaum ein anderes Thema, bis der Wind am späten Nachmittag auffrischt und die Kites aufgepumpt werden.
Die kommenden Tage folgen demselben Schema und nach anderthalb Wochen, die vergehen wie im Flug, ist es Zeit, die Heimreise anzutreten. Zehn Tage mit Kiten, Tauchen, Speerfischen und Lagerfeuer am Strand liegen hinter uns und es fällt allen Beteiligten sichtlich schwer, sich mit der Vorstellung anzufreunden, dass die Rückkehr in den Alltag
ansteht. Wir verabschieden unsere Gäste auf Rangiroa, wo sie ihren komfortablen Rückflug nach Tahiti antreten. Uns kommt ein anderes Los zu. Die Wettervorhersage kippt. 40 Knoten Wind und 15 Fuß Wellengang werden prognostiziert. Wie gern würde ich jetzt mit in den Flieger steigen. Stattdessen folgen erneut Nachtwachen, wenig Schlaf, Kälte, Nässe und kaputtes Geschirr. Aber auch das ist Teil des Abenteuers und der Preis, den ich für diese magischen Momente immer wieder bereit bin, zu zahlen.